Ein Wort zum Tag
Ich bin auf Geburtstagsbesuch bei einer sogenannt hochbetagten, aber sehr interessanten und geistig hellwachen Frau. Wir kennen uns gut, ich besuche sie regelmässig. Die Gespräche sind anregend, keinesfalls bloss small talk. Im Wohnzimmer steht eine Karte, die ihr eine gute Freundin geschickt hat. Auf der Karte – das Photo einer 1000 Jahre alten Kirche in der Toskana. Im Brief zur Karte steht: In den alten Mauern dieser Kirche ahnt man, was wirklich wichtig ist.
Das spricht mich an. Wir ahnen. Wissen wirkt erratisch. Wissen legt fest. Wissen lässt keinen Ausweg. Ahnen hingegen gewährt uns Spielraum, ist offen, grosszügig, intuitiv.
Die Jubilarin erzählt, sie habe beim Geburtstagsfest in die Runde der Gäste geschaut und gedacht: Da sind doch einige, die ihr besonders nahestehen, die sich kümmern, mit denen sie sich verbunden fühlt. Mir geht durch den Kopf: Sie ahnt, was wirklich wichtig ist.
Es mag vielleicht einfacher sein, zu wissen. Das Leben wirkt dann (scheinbar) eindeutig, klar, unhinterfragt. Nicht selten aber ist das eine Illusion, ein Vortäuschen falscher Tatsachen, ein Möchte-Gern. Mut hingegen braucht es zuzugeben, dass wir oft eher ahnen als wissen. Doch ist gerade das, was wir “bloss” ahnen, genau das, was wirklich zählt im Leben. Wir erahnen Liebe. Wir erahnen Schönheit. Und wir ahnen, dass in beidem Gott aufleuchtet.
Pfr. Harald Ratheiser