Ein Wort zum Tag
Rituale sind wie wärmende Sonnenstrahlen, wie das Licht am Ende des Tunnels, wie eine Rose im Schnee, ein freundliches Lächeln. Ayelet Gundar-Goshen beschreibt in ihrem Roman “Löwen wecken” ein zärtliches Ritual zwischen Vater und Sohn (S. 197-198):
Die Flamme entzündet sich in der Wellblechhütte mit einem Schlag, nach Flammenart. Der Mann, der das Feuerzeug hält, bringt es näher an das Gesicht des schlafenden Jungen, berührt ihn leicht an der Schulter. Der Junge schläft weiter, nach Jungenart. Der Mann lässt das Feuerzeug und den Jungen sein und geht hinaus. Die Dunkelheit kehrt in die Hütte zurück, aber in dem schmalen Spalt zwischen Wänden und Dach zeichnet sich schon ein bläulicher Streifen erstes Tageslicht ab. Der Mann geht wieder in die Hütte. In der Rechten hält er eine Glastasse, und um die Ecken seines Schnurrbartes kommt ein Lächeln auf. Die Tasse hält er dem Jungen unter die Nase. Kaffeeduft erfüllt den Raum, dringt in die Nasenlöcher. Der Junge holt Luft im Schlaf, und im nächsten Moment schläft er nicht mehr. Das erkennt man nicht an den Augen, die immer noch geschlossen sind, sondern an dem Lächeln um die Mundwinkel. Jetzt lächeln Vater und Sohn. Ein paar Minuten später sitzen sie schon auf dem sandigen Platz vor der Hütte, trinken schweigend den ersten Morgenkaffee, überschauen das Dorf. … So geht es jeden Morgen. Der Vater hält dem Sohn eine gläserne Tasse unter die Nase, und der Sohn erwacht vom warmen Hauch des Kaffees mit Kardamom. Und so sehr lieben beide dieses Morgenritual, dass der Junge auch, wenn er mal vor dem Vater aufwacht, im Bett liegen bleibt, mit geschlossenen Augen auf ihn wartet, und wenn er noch so dringend pinkeln muss.
Rituale muss man nicht erklären. Sie verbinden ohne Worte, stärken ohne äussere Logik. Sie wirken durch ihr Dasein, beschenken uns mit einem Hauch von Schönheit.
Pfr. Harald Ratheiser