Ein Wort zum Tag
Ein Gedicht wie ein Gebet
Hesses Meisterwerk „Stufen“ ist Gedicht, Gebet und philosophische Erkenntnis vom Feinsten. Wie heisst doch die Redewendung vom Anfang? „Aller Anfang ist schwer.“ Und wenn der Anfang schwer ist, dann brauchen wir Mut, Vertrauen und vielleicht müssen wir auch lernen, über unseren eigenen Schatten zu springen. Die aktuelle Situation erfordert einiges von uns. Obwohl ich mobil bin und selbstständig einkaufen könnte, bleibt mir nichts anderes übrig als Hilfe von aussen anzunehmen. Ich gebe es zu, dieses Umdenken hat mich einige Mühe gekostet und ich habe mich dagegen gewehrt. „Nichts da“, sagte meine Tochter, und darum habe ich heute zum ersten Mal eine Einkaufsliste geschrieben und sie ihr geschickt. Jetzt, wo ich das geschafft habe, gilt für mich: „Aller Anfang ist nicht schwer, sondern schön. Hermann Hesse beschreibt den Anfang in seinem Gedicht so: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Jedem von uns ist ein neuer Anfang geschenkt, vielleicht wartet er auf uns, vielleicht haben wir ihn noch nicht bemerkt, vielleicht dürfen wir schon daraus leben.
Ich wünsche Ihnen von Herzen gute Gesundheit und nehmen Sie sich öfter Zeit zum Innehalten und zur Besinnung.
Ursula Gentsch, Kirchenvorsteherin
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andere, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse 1877-1962